Stellt euch vor, eure Familie steht vor einem Flussübergang. Es gibt keine Brücke. Der Fluss ist breiter als gedacht. Wie findet ihr gemeinsam einen sicheren Weg ans andere Ufer? Solche Situationen erleben wir oft in der Natur. Beim Zelten im Wald, einer Wanderung oder einer Kanufahrt: Die Natur stellt uns vor Herausforderungen, für die es nicht die eine offensichtliche und beste Lösung gibt. Und wir müssen flexibel darauf reagieren. Diese Fähigkeit, offen für Neues und Unbekanntes zu sein, und auch mit Widersprüchen und Unsicherheiten umgehen zu können, heißt Ambiguitätstoleranz.
Ambiguitätstoleranz: Die Kunst, mit dem Unbekannten umzugehen
Ambiguitätstoleranz in der Natur bedeutet das: Flexibel auf Veränderungen reagieren. Gemeinsam Lösungen finden. In den Bergen gibt es oft mehrere Wege zum Gipfel. Welcher der schönste ist, entscheidet jeder selbst. In der Gesellschaft bedeutet Ambiguitätstoleranz, auf Veränderungen reagieren zu können und dabei offen für verschiedene Meinungen zu sein, Kompromisse einzugehen und auch mit Widersprüchen leben zu können.
Das Gegenteil von Ambiguitätstoleranz
Wer auf schlichten Antworten beharrt, hat oft Schwierigkeiten mit ungewissen Situationen. Das Handeln ist oft getrieben von Angst. Andere Meinungen werden nicht akzeptiert und es werden schnell extreme Standpunkte eingenommen. Das kann dazu führen, dass nur noch ein Ziel im Blick ist, zum Beispiel materieller Reichtum, oder Sicherheit. Emotional und kognitiv ist das übersichtlich, aber genau so gewinnen auch Propaganda und Populismus gegen lebendige Demokratie. Genau so gewinnen die „starken Männer“ (Woran denkt man 2024? Hitler oder Stalin? Orban oder Putin oder Trump?).
Gefahr in der Natur
Auch in der Natur birgt das Beharren auf übersichtlicher Eindeutigkeit Gefahren. Wenn Unsicherheiten nicht zugelassen werden können, droht stures Festhalten an Plänen, selbst wenn die Umstände sich ändern. Oft wird so das Gesamterlebnis schlechter, Gefahr wird nicht gemeistert sondern ignoriert. Wenn das Wetter anders ist als vorhergesagt, die Gruppe nicht so „funktioniert“ wie gedacht, der gerade Weg blockiert ist, ist Offenheit gefragt. Häufig finden sich so neue gute Lösungen, die vorher nicht zu sehen waren, und überraschende, schöne (weiter-)Wege!
Warum ist Ambiguitätstoleranz so wichtig für Familien?
Unsere Kinder leben in einer Zeit, die durch schnelle Veränderungen geprägt ist und viele Herausforderungen birgt, seien es Klimawandel, Medienkonsum, Künstliche Intelligenz, Geschlechterfragen oder das friedliche Zusammenleben in einer globalisierten Welt. Auf diese unbekannte Welt können wir sie nur vorbereiten, wenn sie erfahren, dass Veränderungen Chancen bergen und sie auf ihre Fähigkeiten vertrauen können. In der Natur können Familien geplant (oder ungeplant) Herausforderungen gemeinsam meistern, gemeinsam lernen. Und es kommt darauf an, wie dies geschieht.
Die Natur lehrt uns Ambiguitätstoleranz
Gemeinsam ein Lagerfeuer zu bauen, einen Fluss zu überqueren oder einen Berg zu besteigen – solche Abenteuer schweißen Familien zusammen. Kinder lernen dabei, miteinander zu reden, Kompromisse zu finden und Herausforderungen gemeinsam zu meistern. Sie werden selbstbewusster und erleben, wie wichtig es ist, aufeinander Rücksicht zu nehmen und die Natur zu schützen. So wachsen sie nicht nur als Individuen, sondern auch als Teil einer Gemeinschaft.
Wir Eltern sind Vorbilder. Zeigt, wie ihr selbst mit Herausforderungen umgeht! Bleibt flexibel und passt eure Pläne den Umständen an. Feiert gemeinsam Erfolge, auch kleine. Verwandelt Herausforderungen in spannende Aufgaben und nutzt die Natur, um Ambiguitätstoleranz spielerisch zu üben. Baut zum Beispiel eine Brücke über den Fluss oder sucht einen flachen Übergang. Lernt, euch im Wald zu orientieren und findet gemeinsam eine Route. Sammelt Feuerholz und entzündet gemeinsam ein Feuer. Oder stürzt euch gemeinsam in ein Mikroabenteuer und lasst euch überraschen, was euch erwartet.
Grenzen der Ambiguitätstoleranz – warum wir noch weiter denken müssen
Natürlich braucht es nicht nur Ambiguitätstoleranz zum Glücklichsein (sonst wäre sie ein Paradoxon :). Ein großes Maß an Offenheit und Fähigkeit, das Uneindeutige zu bedenken und im eigenen Leben zu erlauben, fördert sehr unser Potential zu zukunftsgewandtem und zivilisiertem Zusammenleben.
Die Forderung nach absoluter Ambiguitätstoleranz in allen Lebenslagen aber ist sicherlich nicht nur paradox, sondern vor allem auch überfordernd. Um offen für Neues zu sein, brauchen wir als Fundament auch Vertrauen, verlässliche Beziehungen und ein gewisses Maß an Glauben, Gewissheiten und Geschichten, die Hoffnung machen. Wie geben wir unseren Kindern solch ein gutes Fundament fürs Leben mit?
Ab in die Draußen-Schule!
Viele wichtige Bestandteile eines guten Lebens erleben wir in der Gruppe draußen in der Natur. Die Natur bietet unzählige Möglichkeiten, um Abenteuer zu erleben, die nicht nur Spaß machen, sondern auch die Entwicklung unserer Kinder (und auch unsere eigene!) fördern. Sie trainiert, mit Herausforderungen umzugehen und neuen Erfahrungen mit Offenheit und Neugier zu begegnen. Sie hilft uns, Vertrauen in unsere Fähigkeiten und in den Rückhalt in der Gruppe zu gewinnen. Und sie öffnet den Blick für die Weite und Größe der Welt, und des Lebens.
Also, schnappt euch eure Rucksäcke, die Wanderschuhe oder das Kanu und entdeckt mit Familie und Abenteuerlust gemeinsam die Natur!
0 Kommentare